Kleister statt KI – Warum echte Werbung noch berührt
30.05.2025

Während wir über KI-generierte Bilder diskutieren, klebt ein müder Mann Plakate auf eine Säule von 1855. Zufall?
Es ist 6 Uhr morgens. Maila und ich drehen unsere gewohnte Runde. Meistens begegnen wir um diese Zeit niemandem – nur die Stille, die frische Luft, das gleichmäßige Tappen von Pfoten auf Asphalt.
Doch heute ist etwas anders.
Vor unserer Haustür steht eine Litfaßsäule – ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit, ein stiller Zeuge der analogen Welt. Normalerweise gehe ich achtlos daran vorbei. Heute aber steht ein weißer Transporter daneben. Die Türen weit geöffnet, Plakate stapeln sich im Inneren. Ein Mann – müde, aber engagiert – hält eine Leiter in der einen, einen großen Besen in der anderen Hand. Mit sorgfältigen Bewegungen streicht er Kleister auf die runde Oberfläche. Dann zieht er zwei große Papierstücke hervor, richtet sie sorgfältig aus und klebt sie aneinander.
Ich bleibe stehen. Maila lässt sich heute Zeit, sie ist noch nicht ganz wach – gut so. So kann ich das Schauspiel in Ruhe beobachten.
Ich muss schmunzeln. Es wirkt fast absurd – und gleichzeitig berührend. Während die ganze Welt über künstlich generierte Bilder, Texte und Videos diskutiert wird, steht hier ein Mensch im Morgengrauen und klebt Plakate auf eine Litfaßsäule. Ganz analog. Ganz echt.
Wann hast du das letzte Mal darüber nachgedacht, dort Werbung zu platzieren?
Ich ehrlich gesagt: noch nie. Meine Welt dreht sich um digitale Bilder, Texte, Strategien. Um Reichweite, Zielgruppen und Performance. Und doch frage ich mich heute: Warum eigentlich dieses ständige Entweder-oder?
Schneller, besser, effizienter. Alles digital. Alles automatisiert.
Aber was, wenn dabei etwas verloren geht?
Eine kurze Recherche bringt Licht ins Dunkel: Die erste Litfaßsäule wurde 1855 von Ernst Litfaß eingeführt – als Gegenmaßnahme zum wilden Plakatieren. Jahrzehntelang prägten sie das Stadtbild. In den 1960ern erlebten sie ihren Höhepunkt. Und dann kam der digitale Wandel.
Heute stehen viele dieser Säulen unter Denkmalschutz – vor allem in europäischen Städten. Einige kündigen noch immer kulturelle Veranstaltungen an. Andere stehen leer, vergessen – übersehen im Rauschen der Zeit.
Aber wann bist du das letzte Mal bewusst stehen geblieben, um zu schauen, was auf einer Litfaßsäule steht?
Oder läuft das längst unterbewusst ab? Streifen deine Augen sie im Vorbeigehen? Bleibt vielleicht doch etwas hängen?
Einige dieser Werbesäulen haben sich modernisiert – mit digitalen Displays und mit WLAN-Hotspots. Sie existieren weiter, irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Echtheit und Anpassung.
Und ich frage mich:
Wie verändert künstliche Intelligenz wirklich unsere Werbung?
Was bleibt übrig, wenn alle Inhalte gleich aussehen, gleich klingen, gleich funktionieren?
Wie heben wir uns ab vom digitalen Einheitsbrei?
Vielleicht ist die Antwort gar nicht so futuristisch.
Vielleicht müssen wir wieder sichtbarer werden – nicht durch lautere Botschaften, sondern durch bewusstere. Vielleicht müssen wir wieder kleben. Wieder stehen bleiben. Wieder hinschauen.
Vielleicht ist es gar nicht wichtig, wo etwas steht – sondern, ob wir noch hinschauen.