Anti-Authentisch – Warum wir uns in der Echtheit verlieren

Es ist Dienstagabend, 20:47 Uhr.
Ich sitze mit dem Laptop auf dem Sofa, das Licht ist gedimmt, meine To-do-Liste längst egal.
Ich scrolle durch Instagram – halb müde, halb auf der Suche nach… irgendetwas.

Dann bleibt mein Daumen stehen.

Eine Frau sitzt auf einem grob gestrichenen Holzfußboden. Hoodie, Dutt, ein halbvolles Weinglas neben sich.
Die Kamera ist leicht schief. Absichtlich.
„Ich will heute einfach mal ehrlich sein“, sagt sie. Ihre Stimme zittert.
Dann: langes Schweigen.

Der Text im Bild: „Ich hab so lange versucht, stark zu sein – jetzt kann ich nicht mehr.“
Unten der Button: 👉 „Jetzt Mentoring anfragen.“

Ich merke, wie sich etwas in mir zusammenzieht.
Nicht wegen der Tränen.
Sondern wegen der Taktung.

Authentizität als Stilmittel

Echt wirkt.
Echt berührt.
Echt verkauft.

Aber wann genau wurde „Echtheit“ zur Marketingstrategie?

Ich frage mich:
Wie viele Storys sind ehrlich – und wie viele einfach nur gut gebaut?

Und vor allem:
Was passiert, wenn wir Echtheit so lange inszenieren, bis sie sich anfühlt wie alles andere?

Vom Hochglanz zur Hochgefühl-Inszenierung

Früher war Werbung poliert, steril, distanziert.
Heute ist sie roh, gefühlt, „nah dran“.

Wir posten Heul-Selfies.
Erzählen von Burnouts.
Machen unsere Schwächen zu Markenwerten.

Und ganz ehrlich: Vieles davon ist richtig. Wichtig. Überfällig.

Aber manches wirkt inzwischen fast… kalkuliert.
Fast so, als gäbe es eine neue Formel:
1 Teil Drama + 1 Teil Ehrlichkeit = 10x Engagement

Die Grenze verwischt

Ich sehe das auch in Gesprächen mit Kunden.
„Wir wollen echt rüberkommen“, sagen sie – und meinen damit:
Geordnetes Chaos. Abgerundete Kanten. Eine Prise drüber, aber bitte ohne Kontrollverlust.

Authentizität wird gebrieft. Gescriptet. Optimiert.
Mit Lichtsetzung und Absicht.

Versteh mich nicht falsch:
Ich glaube an Emotionen.
Aber ich glaube nicht, dass jedes Gefühl ein Verkaufsargument sein muss.

Vielleicht ist es Zeit, anders über Vertrauen zu sprechen.

Was, wenn Klarheit mehr Vertrauen schafft als Nähe?

Vielleicht geht es nicht um „Echtsein“ – sondern um Kohärenz.
Darum, dass Haltung, Handlung und Botschaft zusammenpassen.

Nicht jede Marke muss verletzlich sein.
Nicht jeder Mensch muss öffentlich heilen.
Und nicht jede Schwäche gehört ins Storytelling.

Manchmal entsteht Vertrauen nicht durch „Nähe“, sondern durch Stabilität.
Durch Stil. Klarheit. Substanz.

Fazit

Echtheit ist keine Strategie. Und keine Pflicht.
Sie ist ein Nebenprodukt von Bewusstsein.

Manchmal ist es nicht die größte Stärke, alles zu zeigen –
sondern genau zu wissen, was man nicht zeigen muss.

Denn wer sich ständig beweisen will, wirkt irgendwann nicht mehr echt –
sondern erschöpft.

Echtsein beginnt da, wo die Inszenierung aufhört.
Nicht da, wo sie perfektioniert wird.